LECTURE-PERFORMANCE (on- or offline)
In Englischer Sprache.
Kurz nach Kriegsbeginn okkupierten russische Truppen die südukrainische Stadt Kherson. Beinahe die Hälfte ihrer Einwohner:innen fliehen. Der ukrainische Soziologe und Kulturaktivist Mykola Homaniuk bleibt mit seiner Familie vor Ort. Er beteiligt sich an Demonstrationen gegen die Besatzer:innen, unterrichtet online seine Studierenden, organisiert eine Kunstausstellung und beobachtet die Veränderungen in der urbanen Landschaft, um die sich niemand mehr kümmert: Bäume und Büsche wuchern über die Straßen, Tiere erobern die uinen und die Flüsse sind voller Fische.
In dieser neuen Einöde erkennt er, dass ein Umdenken über die Folgen von Kriegen, Krisen und Katastrophen, die von Menschen verursacht wurden, nötig ist. In der Lecture-Performance “ERÖRTERUNG NEUER VERTRÄGE: SCHÖNHEIT DER EINÖDE” (online oder offline) steckt er die Parameter ab, die es brauchen könnte, um neue Verträge zwischen allen Lebewesen zu schließen.
Mykola Gomanuk (Soziologe und Theatermacher) in Zusammenarbeit mit Lydia Ziemke und Zarif Bakirova.
Hintergrund
“Verlassene städtische Grundstücke (Stadtviertel oder einzelne Gebäude) können zu einer neuen Art von Territorium in der Stadt werden. Sie könnten wie ein städtisches Naturreservat sein, wie vergessene alte Tempel im Dschungel, wo sich das menschliche Erbe mit Flora und Fauna vermischt.
Es ist ein Ergebnis des Umdenkens über die Folgen von Kriegen, Krisen und Katastrophen, die von Menschen verursacht wurden.
Seit dem 24.02.2022 hat nicht weniger als die Hälfte der Einwohner von Cherson (Ukraine) die Stadt verlassen. Das sind 150 000 Einwohner. Und 20 000 Autos. Das gab der Natur die Möglichkeit, sich zu erholen. Das Wasser im Fluss Dnipro ist sauberer geworden. Die Zahl der Fische hat zugenommen. Niemand schneidet Bäume auf den Straßen. Neue Vogelarten haben sich in der Stadt
angesiedelt. Wir hören jeden Morgen ihren Gesang anstelle des Autolärms.
Ich denke zum Beispiel, dass wir unsere bestehenden Gedächtnisorte überdenken müssen, um die Möglichkeit der Propaganda zu vermeiden. Ich sehe die folgenden Projekte. Lokale Archäologen haben bestätigt, dass sich an der Stelle, an der heute noch die Überreste des Denkmals eines einzigen verdammten Politikers stehen, ein Nomadengrabhügel (Kurgan) befand. Ich denke, wir könnten ihn rekonstruieren. Und den Sockel begraben. Dann wird Kurgan zu einem Denkmal für Menschen, die hier in prähistorischer Zeit ein Pferd domestiziert haben. Im Park des Ruhmes des Zweiten Weltkriegs, wo sich jetzt ein T‑34, eine trauernde Mutter und Soldaten der Roten Armee befinden, könnten die Menschen die Natur berühren. Bäume werden zwischen den Tafeln wachsen, Blumen werden blühen, Pilze und Tiere werden sich dort ansiedeln. Der Park wird sich in einen Wald verwandeln, und die Überreste der unbekannten Soldaten werden endlich zur Ruhe kommen.
Wir sollten zulassen, dass die Natur in Fabriken zurückkehrt, die nie funktionieren werden, in unfertige Gebäude, die nie gebaut werden, in verlassene Stadien, in denen niemand trainieren wird. Auch sie
sind Erinnerungsräume. Mahnmale der Modernität. Und die Natur und die Verlassenheit unterstreichen nur die Majestät der Architektur. Solange das Gebäude in Gebrauch ist, kann man
seinen ästhetischen Wert nicht wirklich einschätzen.”
Wir müssen zulassen, dass Gras durch den Asphalt wächst. Alles, was wir in einer solchen Stadt frei atmen können. Menschen und nicht-menschliche Nachbarn. Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Menschen, Pflanzen, Tieren, Pilzen und sogar Keimen schließen. Wir müssen eine neue gemeinsame Sprache mit allen zellulären Organismen und allen Viren finden.